Gärtner Perspektive und EMDR
In der letzten EMDR Fortbildung im März wurde ich wieder Zeugin, was für ein hartes Ringen Ressourcenarbeit ist. Und zwar aus beiden Blickwinkeln: als KlientIn und als BegleiterIn. Das Üben beider Rollen ist ein wichtiger Bestandteil der Fortbildung. Es beruhigt ein wenig, dass es allen Beteiligten schwer fällt, den Blick auf die Ressourcen und Fähigkeiten zu halten im Angesicht eines herausfordernden Themas. Umso größer und einprägsamer ist das AHA-Erlebnis, wie die Gärtnerperspektive wirkt. Denn sie spart Zeit und Energie.
Um die Gärtner Perspektive für Coaching anschaulich zu machen habe ich für dich im Gepäck:
- Eine Sonnenblumengeschichte
- Was die Gärtner Perspektive im Coaching ist
- Warum sich die Gärtner Perspektive für dein Coaching lohnt
- Praxistipps zum Üben der Gärtner Perspektive im Coaching
Am Ende bist du hoffentlich motiviert, die Gärtnerperspektive selbst zu testen oder zu erweitern.
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Shownotes zu Folge 064
Vertiefe das Thema Ressourcen im Coaching hier: 058 Warum Ressourcenarbeit das A und O im Coaching ist
Mehr über EMDR Coaching findest du in der Kategorie EMDR Ausbildung
Hier erfährst du, wie EMDR im Coaching funktioniert und wie du es lernen kannst.
Skript: Gärtner Perspektive EMDR
Die Geschichte von den Sonnenblumenkernen
Stell dir vor, da ist ein kleiner Bauerngarten neben einem asphaltierten Weg. Am Zaun des kleinen Bauerngartens stehen Sonnenblumen. Sie haben bereits die Blüte hinter sich und sind schwer von dicken Sonnenblumenkernen. Manche Kerne werden von kleinen Spatzen und Meisen herausgepickt. Einige fallen auf die Erde am Zaunrand. Und ein paar Kerne fallen auf den Asphalt des kleinen Weges neben dem Gartenzaun. Der Weg ist schon alt und uneben. So kommt es, dass im Frühjahr noch ein paar Sonnenblumenkerne in einer Kuhle des Asphaltweges liegen.
Im Frühjahr hat die Gärtnerin bereits im Garten alte Reste aus dem Vorjahr weggeharkt, Pflanzen beschnitten, neue Blumen und Pflanzen gesät. Zu ihrer Freude entdeckt sie, dass ein paar Sonnenblumensamen aufgegangen sind. Sie sind schon mehrere Zentimeter hoch. Neben dem Zaun strecken sie bereits ihre grünen Stängel und Blätter Richtung Himmel.
Was brauchen Sonnenblumenkerne, damit aus ihnen kräftige Sonnenblumen werden? Nährstoffreiche Erde, Wasser und Licht. Das hatten die Sonnenblumenkerne, die direkt neben dem Zaun herunterfielen auf die Erde.
Daher brauchte die Gärtnerin nicht viel zu tun. Ohne ihr Zutun wurden aus den Kernen neue Sonnenblume, die im Sommer wieder üppig blühen.
Was ist jedoch mit den Sonnenblumenkernen, die noch in der Kuhle des Asphaltweges neben dem Zaun liegen?
Ein findiger Junge weiß noch aus der Schule, dass Sonnenblumen Licht, Wasser und Erde brauchen. Also hat er folgende Idee: Ich kann doch mit Hacke und Schaufel den Asphalt unter den Samen weghacken und entfernen. Vielleicht nehme ich noch ein Stück Vordach des Schuppens weg. Sein Überhang verhindert nämlich, dass Sonne auf die Stelle scheint, wo die Sonnenblumenkerne in der Asphaltkuhle liegen. Und dann lege ich eine Drainage, damit dort genug Wasser hinkommt zum Wachsen. Denn unter dem Asphalt ist Sand. Das Wasser versickert dort. Ja und dann muss ich noch ein Schild an der Straße aufstellen: Achtung, diese Stelle nicht befahren, damit hier Sonnenblumen wachsen können.
Es wäre ein möglicher Weg. Jedoch umständlich und aufwändig, oder?
Die Gärtnerin würde es anders machen. Sie würde die Sonnenblumenkerne einfach in den Garten bringen. Zu den anderen Sonnenblumen an den Zaun in die Erde setzen, wo die Bedingungen zur Entfaltung optimal sind. Dazu braucht sie keinen Asphalt weghacken, kein Dachüberhang entfernen und keine Drainage legen. Sie kann sich viel Aufwand und Anstrengung sparen. Denn sie muss lediglich die Samen mit dem richtigen Umfeld zusammenbringen. Die Gärtnerin weiß: den Rest erledigt die Natur. Sie muss höchstens ein wenig gießen, wenn es ein sehr trockener Sommer werden sollte.
Soweit die Geschichte.
Im Coaching wie im Leben verhalten wir uns manchmal wie
der kleine erfinderische Junge. Da kommt jemand mit einem Problem, einer Herausforderung um die Ecke. Und was machen wir? Wir gucken sofort auf alles, was nicht stimmt. Wir analysieren die Situation und versuchen im Problemumfeld die Lösung zu finden.
Es ist so leicht, sich verleiten zu lassen, beim Problem zu bleiben. Dann wundern wir uns, wenn es zäh wird.
Ich kenne das allzu gut.
Denn wenn ich mit einem eigenen Thema beschäftigt bin, bin ich selbst wie vernagelt für hilfreiche Überzeugungen, Lösungen und Auswege. Ursache sind die damit verbundenen unangenehmen Gefühle. Sie wirken wie ein Sog. Es kommt mir vor, als würde ich wie ein Kaninchen auf die Schlange starren: Da gibt es nur noch das Problem und es zieht magnetisch die Aufmerksamkeit auf sich. Alles Andere wird ausgeblendet.
Genauso geht es Klienten, wenn sie zu uns kommen. Sie kommen ja, weil sie in einer ähnlichen Verfassung der kleine findige Junge. Der denkt problembezogen und bleibt mit der Aufmerksamkeit in der Problemecke: na, da muss ich halt den Asphalt und das Vordach wegmachen. Wie anstrengend! Das passiert, wenn wir mit der Aufmerksamkeit an der Problemstelle stehen bleiben. Es ist ätzend anstrengend und kompliziert.
Wir richten als Begleiter ebenfalls die volle Aufmerksamkeit auf die Störung richten, wenn wir
- nach dem „Warum“ fragen,
- die Situation im Detail verstehen und analysieren wollen
- und erfahren wollen, was es alles für Zusammenhänge haben könnte.
Wundert es dich, wenn sich solche Abschnitte von Sitzungen hinziehen wie Kaugummi? Wenn sinnvolle Lösungen schwerlich auftauchen? Wer auf der Straße steht und nur auf die Asphaltkuhle schaut mit den Sonnenblumensamen, die nicht wachsen wollen, hat es verdammt schwer.
In den EMDR Ausbildungen wie im Coaching merke ich immer wieder, wie schwer es vielen fällt, die Perspektive der Gärtnerin einzunehmen.
Die Gärtnerin weiß um die Kräfte und Gesetze der Natur und richtet sich danach. Wenn die richtigen Bedingungen geschaffen sind, entwickelt sich die Pflanze selbst.
Vielleicht braucht sie noch ein paar unterstützende Maßnahmen: angießen oder evtl. überwucherndes Kraut entfernen..
Alles was es braucht ist: zuerst schauen, dass die Samen vom falschen Ort auf einfache Art und Weise mit dem ressourcenreichen Ort in Verbindung kommen können.
Schau zuerst auf Ressourcen und Fähigkeiten – Praxistipp
Klienten buchen uns, um ihr Problem schnell in den Griff zu bekommen, „wegzumachen“ und behilflich zu sein, einen neuen Weg zu finden.
Das merkst du daran, wenn du nach dem Ziel für die Sitzungen fragst: „Mein Chef soll mich nicht mehr mit Arbeit überhäufen“, „ich möchte keine ätzenden Diskussionen mehr haben über XY“, „mein Sohn nicht mehr so faul sein“…
Die „nicht mehr“ – Ziele oder die Ziele, die in der Verantwortung Anderer liegen, sind besonders verlockend, tiefer und tiefer in das Problem einzutauchen.
Es soll nicht mehr den Asphalt unter den Sonnenblumensamen haben, das Vordach soll keinen Schatten mehr auf die Sonnenblumensamen werfen… Das ist der enge problemfokussierte Blick.
Es ist voll o.k. wenn Klienten diesen Blick haben. Deswegen sind sie ja gekommen. Wichtig ist nur, dass wir uns nicht daneben stellen und genauso problemfokussiert mit-untersuchen.
Einen erster Blickwechsel bringt bereits die Frage: „Was willst du stattdessen?“ Du weißt, wie schwer es oftmals ist, diese Frage zu beantworten.
Was für ein Ringen, bis klar wird: „gute Erde, in der die Sonnenblume wachsen kann.“ Und „ausreichend Sonne“.
Oder beim Coaching: „Gelassenheit und Klarheit, um meine Position deutlich und gut zu vertreten.
Wenn das Ziel deutlich ist – ein Hin-zu-Ziel statt ein Weg-von-Ziel, dann kann es weiter gehen.
Jetzt kommt aus meiner Erfahrung ein heikler Punkt:
Wenn du nämlich fragst: „Wie kannst du in der Situation mit deinem Chef Gelassenheit und Klarheit gewinnen?“ verhältst du dich wie der kleine Junge, der überlegt, wie er an der Stelle auf dem Asphalt den Sonnenblumensamen zum Wachsen und Blühen verhelfen könnte. Das führt auf den Holzweg, äh Asphaltweg.
Regelmäßig erlebe ich, wie BegleiterInnen konzentriert auf das Problem schauen und es zu versuchen in ihre Landkarte zu übertragen. Statt sich vom Problemfokus zu lösen und Perspektivwechsel einzuleiten.
Für den Wechsel zur Gärtnerin-Perspektive brauchst du eine etwas andere Frage. Sie hat einen kleinen feinen Unterschied:
In welchem ganz anderen Zusammenhang ist es dir schon Mal gelungen, gute Erde und ausreichend Sonne zu finden?
Im Coaching: In welchem ganz anderen Zusammenhang gelingt es dir gelassen und klar zu sein?
Aha. Jetzt kann der Transfer eingeleitet werden.
„Früher als Kind habe ich in der Schule am Fenster in einem Topf Bohnen eingepflanzt und dann…“
„Zu Hause. Wenn alle mich gleichzeitig bestürmen und mir alles zu viel wird, backe ich einfach erst Mal einen Kuchen. Dabei sortieren sich meine Gedanken und danach können wir in Ruhe Gespräche führen. Oder beim Yoga, da schalte ich gut ab und danach habe ich wieder klare Gedanken.“
So können Verbindungen zu Wissen und Fähigkeiten geknüpft werden. Auf einmal ist es einfach und klar. Das ist die Gärtnerin-Perspektive. Aus der heraus begleiten wir Klienten mit Leichtigkeit. Denn Erde, Sonne, Wasser – sie entsprechen den im Gehirn bereits vorhandenen Ressourcennetzwerken. Es sind die Fähigkeiten, das erworbene Wissen, bereits erfolgreich eingesetzte Strategien usw.
Und ja, manchmal sind sie schwer zugänglich oder in den Hintergrund geraten. Das ist dann unser Job: Klienten zu unterstützen, die Verbindungen zu ihren eigenen Ressourcen, Fähigkeiten und in anderem Kontext genutzte Bewältigungsstrategien wieder herstellen durch die richtigen Fragen und Angebote.
Ohne diese Ressourcennetzwerke anzuzapfen ist Coaching ein zähes mühsames Ringen.
Nimm die Gärtner Perspektive ein
Die Gärtnerin Perspektive einzunehmen und beizubehalten erfordert Übung und Durchhaltevermögen.
Klienten von unserer ressourcenfokussierten Vorgehensweise zu überzeugen ist herausfordernd.
Ihnen zu schildern, dass wir uns zuerst einen knackigen Überblick verschaffen über die Gesamtlage – ohne ins Detail zu gehen.
Und dann zweitens gründlich Ressourcen und Fähigkeiten aktivieren.
Bevor wir uns drittens an das eigentliche „Problem“ machen.
Spezifisch für das EMDR: bevor wir an die Verarbeitung des „Problems“, des respräsentativen Ereignisses mit Stimulation der Hirnhälften beginnen.
An der Stelle brauchst du ein bisschen Psychoedukation. Mach gut verständlich, dass die Problemlösung viel angenehmer, leichter und besser gelingt, wenn ihr euch für Nummer zwei – für Ressourcen – ausreichend Zeit und Raum genommen habt. Das gilt nicht nur für therapeutisches Setting, sondern auch für Coaching und Beratung.
Unsere Überzeugungskraft wächst, je mehr gute Erfahrungen wir mit der Gärtnerinnen-Haltung gemacht haben. Daher lade ich dich herzlich ein, Ressourcenarbeit wieder mehr in dein Coaching-Programm aufzunehmen und damit zu experimentieren.
Reflexionsfragen für dich zur Gärtner Perspektive und EMDR
Erinnere dich an die Geschichte von den Sonnenblumenkernen.
- Wo wachsen sie am besten zur Blume heran?
- Lässt du sie ausschließlich da, wo du sie gefunden hast und baust um sie herum, was sie benötigen?
- Oder trägst du sie ins richtige Umfeld und lässt sie dort wachsen und gedeihen?
Und im Coaching:
- Fokussierst du auf das Problem und versucht es im Problemkontext zu lösen?
- Oder löst du dich davon und trägst den „Kern der Sache“ in ein Feld mit Wachstumsmöglichkeiten.
Letzteres ist die Gärtner Perspektive auch im Coaching.
Gärtner Perspektive bedeutet Coaching basierend auf Ressourcenkenntnis und dem tiefen inneren Wissen und Vertrauen auf gesunde Entwicklung in Verbindung mit den richtigen Komponenten.
- Erde, Wasser, Licht bei den Pflanzen.
- Kontinuierliche Verbindung und Unterstützung des Fokus auf Stärken, Fähigkeiten, Bewältigungsressourcen u.v.m. Das bedeutet gezieltes Wiederentdecken und Konzentration auf die vielfältigen Ressourcennetzwerke im Gehirn.
Und wenn sie noch nicht stark genug sind, gilt die erste Aufmerksamkeit zuerst und besonders der Stärkung von Ressourcen durch bewusste Erinnerung, Visualisierung mit allen Sinnen u.v.m.
Das gilt für Coaching und Beratung grundsätzlich und ist wichtig beim Einsatz von EMDR.
Für Coaching mit EMDR gilt: Finger weg vom EMDR, wenn Ressourcenarbeit noch nicht gemacht ist oder nicht funktioniert!
Sonst bist du wie der kleine Junge, der den Aspalt aufbricht und das Dach wegreißt, damit die Sonnenblume wachsen kann…
Davon gehe ich jetzt nicht aus – schließlich hast du diese Folge gehört. Und ich bin mir sicher, dass auch du die Gärtner Perspektive bevorzugst, vielleicht in dir trägst oder sie bereits anwendest.
Lass uns gerne darüber in den Austausch gehen! Teile gerne deine Erfahrung mit uns hier im Kommentarfeld.
Frühlinghafte Gärtnerinnen – Grüße
Kathrin (Stamm)
Eine großartige Geschichte, die mich daran erinnert, in meiner Arbeit noch mehr den Ressourcen-Blick zu schärfen. Vielen Dank, Kathrin.
Danke, liebe Christine!
Es freut mich sehr, wenn die Geschichte dich anregen konnte. Je älter ich werde und je länger ich arbeite, um so deutlicher und klarer steht es auch mir vor Augen: Dass sowohl Klienten als auch ich können reichlich davon vertragen können 😉
Herzliche Grüße
Kathrin